1:59:40 und was jetzt?

1:59:40 und was jetzt? Bild via Fotolia AbsolutVision

Gedanken zum Thema Sportswashing und die Frage: 1:59:40 und was jetzt?
Zweifellos hat Eliud Kipchoge mit der Zeit von 1:59:40 über die Marathondistanz von 42,195 Kilometer in Wien Geschichte geschrieben. Um so eine Leistung zu bringen, müssen neben Laborbedingungen auch  jahrelanges Training, soziale Unterstützung und ein unbändiger Wille zum Sieg vorhanden sein. Seine Aussage „er wollte zeigen, dass kein Mensch limitiert ist“, ist in Anbetracht der Entwicklung von Hochleistungssport zumindest hinterfragenswert.

Ich laufe, um Geschichte zu schreiben und zu zeigen, dass kein Mensch limitiert ist.
Eliud Kipchoge

Modellzeit

Der US-Mediziner Mike Joyner hatte 1991 berechnet, dass ein Marathon unter zwei Stunden möglich ist. 01:57:58 wären demnach theoretisch das Schnellste, was ein idealer Mensch unter idealen Bedingungen – Laborbedingungen – laufen könnte. Dieses errechnete Limit zu unterbieten, scheitert vor allem am Limit der maximalen Sauerstoffaufnahme, auch die Laktat-Schwelle und Laufökonomie führt Joyner als physiologische Bedingungsfaktoren an.
[av_font_icon icon=’ue835′ font=’entypo-fontello‘ style=“ caption=“ link=’manually,https://pdfs.semanticscholar.org/6699/5d7becac8e72576c6e9a828a6315982c16b7.pdf‘ linktarget=“ size=’14px‘ position=’left‘ color=“ admin_preview_bg=“][/av_font_icon] Modeling: optimal marathon performance on the basis of physiological factors – PDF

VO2max

Die für Ausdauersportarten so wichtige maximale Sauerstoffaufnahme ist den meisten Studien zufolge zu rund 50 Prozent genetisch festgelegt. Die Körpergröße liegt zu bis zu 80 Prozent, der Body-Mass-Index zu 30 bis 50, die Muskelkraft und die maximale Sauerstoffaufnahme zu rund 50 Prozent in den Genen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Erfolg ist damit offenkundig: den zur Sportart passenden Körperbau zu haben.

Kalendjin – ein Langstreckenvolk

Die meisten Langstreckenläufer aus Kenia sind Kalendjin, auch Eliud Kipchoge. Sie machen gerade 0,06 Prozent der Weltbevölkerung aus, haben aber rund 60 olympische Medaillen auf der Mittel- und Langstrecke gewonnen und stellen drei Viertel der kenianischen Spitzenathleten. Forscher der Universität Kopenhagen haben mehrfach Kalenjin-Läufer mit gleichaltrigen dänischen Jungen verglichen. Sie stellten Vorteile im Körperbau der Afrikaner fest, nicht jedoch gravierend bessere Anlagen für die maximale Aufnahmefähigkeit von Sauerstoff.

Evolution und Anpassung

Was im Laufe der Evolution eine Anpassung an das Klima und die Umgebung war, nutzt auch der Biomechanik beim Langstreckenlauf: Über Jahrhunderte mussten die Kalenjin ihrem Vieh hinterherrennen. Die Gene der besten Läufer hätten sich letztlich durchgesetzt, meint David Epstein, Autor des Buches „The Sports Gene“. Doch seit einigen Jahren fällt ein Schatten über Kenias Laufszene. Athleten mit großen Namen wurden beim Dopen erwischt und gesperrt. Kenia hat ein ernsthaftes Doping-Problem.

Talent und Gene

Bis heute wurden weit mehr als 200 Genvarianten identifiziert, die mit der sportlichen Leistung zusammenhängen. Manche Sportverbände setzen heute schon mehr oder weniger offiziell Gentests ein, um Talente zu finden: in Usbekistan, angeblich auch in China und Mexiko.

Sport ohne Limits?

„Ich laufe, um Geschichte zu schreiben und zu zeigen, dass kein Mensch limitiert ist.“, letzteres an der Aussage Kipchoges irritiert mich. Klar, um so eine Leistung zu bringen müssen jahrelanges Training, soziale Unterstützung und der Wille zum Sieg vorhanden sein. Weltklasseleistungen sind neben körperlichen Voraussetzungen immer auch erarbeitet, erkämpft. Aber zu viele Athlet*innen überwinden die eigenen Grenzen mit Doping. Und auch Gendoping ist längst keine Utopie mehr.

Gendoping

Wenn man von Gendoping hört, wird meist von Gendoping im engeren Sinn gesprochen – den Missbrauch gentherapeutischer Maßnahmen, das konkrete Zuführen von genetischem Material, zum Beispiel DNA oder RNA. Gendoping im weiteren Sinn zielt auf die Manipulation der Genexpression mittels hochspezifischer Medikamente – etwa Steroiden.

Doping als Resultat sozialer Faktoren

Das Doping-Problem, mit dem die kenianische Läuferszene ringt, hat soziale Ursachen. Viele Athleten kommen aus sehr bescheidenen Verhältnissen auf dem Land und werden direkt in den Leistungssport katapultiert. Ich denke mit Grauen an die Dopingszene in der DDR – auch sie basierte auf Abhängigkeit, gekennzeichnet von Menschenverachtung und Machtmissbrauch. Wenn der Durchbruch, der zwei Stunden-Marathongrenze als Durchbruch einer psychologischen Barriere des Laufsports frenetisch gefeiert wird, tut sich noch eine andere Sichtweise auf.

Cui bono?

Wer profitiert letztendlich am meisten von Höchstleistungen? Nicht der Sport im allgemeinen, gesellschaftlichen Sinn, schon gar nicht die Athlet*innen. Für die Freude am Laufen in ihrer intrinsischen Motivation und den gesundheitlichen Wert von Bewegung, hat diese Bestzeit keine Auswirkung. Auch Leistungssport zählt nicht zu den Profiteuren. Athlet*innen werden immer austauschbarer und nur mehr an Ausnahmeleistungen gemessen. Und eines ist gewiss, bei 1:59:40 wird es nicht bleiben, wenn die Möglichkeit von 1:57:58 bereits prognostiziert ist.

1:59:40 und was jetzt?

Mike Joyner wollte bereits in den 1990ern seine These vom physischen Geschwindigkeits-Limit des Marathons untersuchen. Es fehlten ihm die Mittel. Dafür waren Sponsoren bereit, tief in die Tasche zu greifen. Wie unter anderem das Oregon Projekt zeigt, um auch unlautere Mittel & Massnahmen zu finanzieren. Dort wo sehr viel Geld im Spiel ist, geht es längst nicht mehr nur um Marken-Kommunikation. Es geht um Sportswashing, mit dem das angekratzte Image von Unternehmen, ja sogar Staaten reingewaschen werden soll.

Sportswashing, alle machen mit

Es sind nicht nur Unternehmen und Staaten die Menschenrechte mit Füssen treten, die Interesse haben ihr Image im Umfeld des Sports strahlen zu lassen. Auch die Sportverbände, vom IOC abwärts, spielen munter mit. Denn spätestens seit Eliud Kipchoge die Schallmauer des Marathons durchrannt hat, ist klar, dass auch der Sport durch Sportswashing seine Reinheit zeigen soll. Genau das halte ich für groben Machtmissbrauch an Hochleistungssportler*innen, die sich meistens nicht bewußt sind, wofür sie eigentlich benutzt werden.

Links zum Thema

Der Wiener Heurige hat nun einen asketischen Kollegen – Joskos Blog, 12.10.2019

Rund 50 Prozent nutzen EPO – Kurzfassung der ZDF Reportage über Doping in Kenia, 31.05.2019

Geborene Sieger – Genetik im Sport, Zeit Online, 19. August 2016

Weltrekordler Eliud Kipchoge: Er wollte eigentlich im Büro arbeiten, SZ, 16. September 2018

Skandalmarathon in Katar bei 32,7 Grad: „Es war schrecklich“, Der Standard, 28. September 2019

Sportswashing and the tangled web of Europe’s biggest clubs, The Guardian, 15. Februar 2019

Der echte Weg zurück

Der echte Weg zurück

Der Weg zurück – Das Projekt hat mir gefallen, als ich erstmals mit Martin Prinz darüber sprach. Es ging mir schon vorher um das Hinterfragen von Hochleistungssport mit seinen totalen Tendenzen. Martin sprach von schizophrenen Zügen im System. Den Versuch, das über ein Comeback und eine zweite Chance für Johannes Dürr zu transportieren, fand ich auch menschlich gut. Verstehen und vergeben, davon bin ich überzeugt, sind wichtig für das eigene Wohl.

An Zorn festhalten ist wie Gift trinken und glauben, dass der andere daran stirbt.
_Buddha

Unbegreiflich

Als ich von Johannes Dürrs neuerlichen Doping-Aktivitäten erfuhr, hat es mich ordentlich erwischt. Ich war ziemlich betroffen, weil ich die Irrationalität dahinter nicht begreifen konnte. Dürr hat sich ja mit seiner Aussage bei den ermittelnden Behörden selbst beschuldigt. Spätestens seit dem Zeitpunkt als er Personen des Dopingnetzwerks benannte, musste er damit rechnen, dass seine jüngsten Aktivitäten in eben diesem Netzwerk auffliegen können.

Was zum Teufel

Ich versuche gerade zu verstehen warum Johannes Dürr so gehandelt hat. Für mich genügt es nicht einfach nur Betrüger zu schreien. Ich wurde ja selbst betrogen. Mein Vertrauen wurde ausgenutzt. Es wäre jetzt ganz einfach Dummheit und/oder krimminelle Energie dafür verantwortlich zu machen. Das Böse oder um päpstlich zu Sprechen, das Übel unhinterfragt zur Verantwortung zu ziehen hilft mir nicht weiter. Ich glaube nicht an den Teufel.

Angst
Angst zu scheitern – Anstoss, Theater Arche 2019 – © P. Nitsche

Verstehen

Es müssen psychische Vorgänge sein, die im sozialen System des Hochleistungssports zu besonderen Handlungen führen. Im Theaterstück Anstoß ist mir eine Emotion aus Athletinnen-Tagen extrem hochgekommen. Die Angst vor dem Scheitern. Sie ist mir am Genick hochgekrochen, hat meine Haare gesträubt und mir Tränen in die Augen getrieben. Als sie vorbei war hatte ich die Lösung für zahlreiche Warum-Fragen.

Angst

Die Angst vor dem sportlichen Versagen fühlt sich an wie Todesangst. Es geht um den einzigen Inhalt der das eigene Leben vermeintlich ausmacht; für den man seit frühester Kindheit alles geopfert und in Kauf genommen hat. Ich weiß nicht ob Dürrs Verhalten damit in Zusammenhang steht, ich kenne ihn nicht persönlich. Es könnte vieles erklären, nicht entschuldigen.

Der echte Weg zurück

Um Entschuldigung bitten muss Johannes selbst, ebenso wie er die Konsequenzen selbst zu tragen hat. Nicht als Opfer sondern als Täter. Viel Glück für den echten Weg zurück, Johannes, in ein Leben in dem die alleinige Identifikation mit der sportlichen Biografie Geschichte ist.

Liebe Frau Winkens

Liebe Frau Winkens

Liebe Frau Winkens,

zuallererst möchte ich Ihnen mein Mitgefühl ausdrücken, für die sexuelle Gewalt, die Ihnen als junger Frau angetan wurde. Es ist mutig, darüber zu reden, egal zu welchem Zeitpunkt.

Warum erst jetzt?

Möglicherweise wird Ihnen die Frage erspart bleiben, die mir und vielen anderen Betroffenen dauernd gestellt wird: „Warum erst jetzt?“ Sie haben ja ein Motiv geliefert, das für viele Menschen plausibel klingt. Ich habe darüber nachgedacht.

Zuerst mein Motiv

Ich habe ‚meine Geschichte‘ öffentlich erzählt, als ich für mich empfunden habe, dass es jetzt reicht. Dass im Sport und in anderen Systemen Machtverhältnisse aufrecht gehalten werden, die unter anderem sexuelle Gewalt ermöglichen.

‘You have to use your privilege to serve other people’
Tarana Burke

#MeToo

Von #MeToo und Tarana Burke wusste ich noch nichts, als ich den Beschluß fasste ein Tabuthema laut auszusprechen. Nachträglich habe ich dann mehr erfahren. Über das Motiv und die Initiatorin der MeeToo Bewegung. Mich bewegen ähnliche Gefühle.

Die Geschichte eines Mädchens

Alles begann lange vor dem Weinstein-Skandal – mit der Geschichte eines kleinen Mädchens.1996, als Burke als Jugendcamp-Leiterin arbeitete, hat sich ihr ein Mädchen anvertraut und vom Missbrauch durch den Freund ihrer Mutter erzählt.

„Ich sah ihr dabei zu, wie sie wie sich von mir entfernte, wie sie versuchte, ihr Geheimnis wieder einzufangen und in ihr Versteck zurückzulegen. Ich sah, wie sie ihre Maske wieder aufsetzte und wieder in die Welt hinausging, als sei sie ganz allein – und ich fand nicht einmal die Kraft um ihr zuzuflüstern: Me too.“
Tarana Burke

Scham und Angst

Inzwischen haben sich mir viele Menschen anvertraut. Frauen und Männer, die zum ersten Mal über schlimme Erfahrungen mit sexueller Gewalt reden konnten. Einige haben vierzig, fünfzig Jahre ganz alleine mit traumatischen Erinnerungen zugebracht; aus Scham und Angst vor gesellschaftliche Ächtung.

Es geht um die Zukunft

Andere haben ihre Erfahrungen, so wie ich, schon längst überwunden. Wut und Selbstzweifel haben dem inneren Frieden Platz gemacht. Die Opferrolle ist dem Gefühl einer liebevollen Partnerschaft gewichen und gegen die Rolle als Eltern und Großeltern getauscht.

Das Motiv, berühmte Namen preiszugeben und damit die heile Welt von Sport, Kunst, Kultur und Religionen in Frage zu stellen, hat bei uns allen nichts mit Rache zu tun.

Es geht uns allen gemeinsam um die Aufarbeitung der Vergangenheit in Systemen um dadurch einen Paradigmenwechsel für die Zukunft der Nachfolgegenerationen zu ermöglichen.

Liebe Frau Winkens

Über Ihr im News Interview geäußertes Motiv habe ich mich gewundert. Ich habe mich gefragt ob Sie den Sinn von MeToo nicht verstanden haben. Dass #MeToo kein Pranger ist. Dass es vergleichsweise wenige Kollateralschäden gibt, gegen die positiven Effekte für unzählige Betroffene. Dass daraus eine veränderte Wahrnehmung entsteht, die präventiv wirkt.

Schuldfragen klärt der Rechtsstaat

Ich finde es durchaus wichtig, dass man Männer nicht pauschal unter Verdacht stellt. Ich halte es für falsch, Beschuldigte vor der Klärung durch rechtsstaatliche Verfahren freizusprechen oder zu verurteilen.

Wenn man nicht direkt betroffen ist oder als Zeugin oder Zeuge eine direkte Wahrnehmung von Vorfällen hat und Partei ergreift, macht man nichts anderes als Menschen an den Pranger zu stellen – entweder mutmaßliche Opfer oder mutmaßliche Täter.

Die Schuldfrage im von Ihnen genommenen Anlaßfall für Ihr Outing, wird am Rechtsweg geklärt werden. Stellen wir versuchsweise eine ganz andere Frage, die alle etwas angeht: Wie kommt ein Aufnahmeprotokoll von einer Anzeige bei der Polizei in die Redaktion eines Boulevardblatts?

Machtmissbrauch im System

Machtmissbrauch im System

Franziska Fuchs ist das Pseudonym einer Frau, die in der Öffentlichkeit anonym bleiben will. Sie hat ‚ihre Geschichte‘ von der Vergewaltigung durch Toni Sailer dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel erzählt. Wie im Jänner schon, als ein Journalistenkollektiv neue Fakten zum Akt Sailer aus dem Jahr 1974 veröffentlichte, gehen auch diesmal die Emotionen hoch. Es wird gemutmaßt und verurteilt. Im Zusammenhang mit sexueller Gewalt im Sport steht aber eines Fest: Die Hauptschuld trägt der Machtmissbrauch im System

Franziska hat mich im Frühling 2018 kontaktiert. Sie möchte mit mir reden. Nicht am Telefon, ob wir uns treffen können? Wir trafen uns und was sie mir anvertraute, hat mich betroffen gemacht wie kein anderes Gespräch über sexuelle Gewalt zuvor.

Vergewaltigt mit vierzehn

Der Spiegel hat darüber berichtet, wie ein 14 jähriges Kind von Toni Sailer mit einer Autogrammkarte am 26. Jänner 1975 im Quartier der österreichischen Mannschaft ins Hotelzimmer gelockt wurde. Wie zunächst eine Vergewaltigung versucht wurde. Das Mädchen dann im Zimmer eingeperrt war um später von einem 40 jährigen Nationalhelden brutal missbraucht zu werden.

Glaubwürdige Schilderung

Ich habe keine Sekunde an Franziskas Schilderung gezweifelt. Die Zusammenhänge hätte allenfalls jemand aus dem näheren Umfeld des Skizirkus konstruieren können, nicht aber ein Mädchen, das als Skifan zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Warum erst jetzt?

Es war ein Gespräch unter heute reifen Frauen, über kindliche Ratlosigkeit, Schuldgefühle, Scham und wie Franziska dadurch schwer krank wurde. Sie hat sich noch als Jugendliche einem Therapeuten anvertraut. Er hat ihre tiefe seelische Verletzung als Jungmädchen-Phantasie abgetan. Danach hat sie geschwiegen.

Ich erzählte meine Geschichte und sagte: ich wurde vergewaltigt. Habe auch den Namen dazugesagt. Der Arzt hörte zu, schluckte und meinte anschließend, ob ich mir sicher bin, denn er glaube, das ist nur ein Jungmädchentraum.
Originalzitat FF

Einige Wochen vor unserem Treffen habe ich für den Kurier einen Gastkommentar geschrieben. Die Wogen gingen in Österreich hoch, weil ein Journalistenkollektiv von Der Standard, Dossier und Ö1 den ‚Akt Sailer‘ erneut ausgegraben hat, nachdem der Fall 1974 im Stern bereits Thema war und erfolgreich verdrängt wurde.

Wir reisten damals auch in den „Ostblock“. Dort hörte ich von günstigen Quellen für Kaviar, Krimsekt & „Nutten“. In den Hotels der Nomenklatura herrschte Ausnahmezustand, auch für die Grundwerte des Marxismus. In diesem Ambiente war vieles möglich. Sogar das Unvorstellbare, das 1974 über Toni Sailer im „Stern“ erstmals in den Fokus der Öffentlichkeit geriet. Der junge Journalist Bernd Dörler hatte akribisch recherchiert und mit viel Mut über weitreichende Zusammenhänge berichtet.

Schon damals stand weniger die mögliche Straftat von Sailer im Mittelpunkt. Es war das diplomatische Zusammenspiel, das politische Kalkül zweier Regierungen. Das hätte man ernst nehmen müssen und nicht zensieren. Als Mitglied des Skiteams, wusste ich nicht was ich glauben soll. Es kursierten viele Geschichten und Gerüchte. Die Version vom Skiverband wurde zur Norm, der Journalist zum Schwein erklärt. Somit war das Thema tabu.

„Der wahre Skandal wird sichtbar“
Nicola Werdenigg, Gastkommentar Kurier

Das Opfer des Systemversagens hat ein Gesicht

Nachdem Franziska mir ‚ihre Geschichte‘ erzählt hatte, bekam ein Opfer des Systemversagens ein Gesicht, das die Person Toni Sailer und mutmaßlichen Taten noch mehr in den Hintergrund gedrängt hat. Sailer wäre am 17. November 83 Jahre alt geworden, 2009 ist er gestorben. Das System, das zumindest ein mutmaßliches zusätzliches Verbrechen möglich gemacht hat, erfreut sich eines blühenden Lebens.

Aus der Vergangenheit nichts gelernt

Männerbünde bestehend aus Sportfunktionären und Politikern verhinderten die Aufklärung einer schweren Anschuldigung. Sie setzten sich über Gesetze und Rechte jeder Art hinweg. Namhafte aktive Politiker haben aus der Vergangenheit nichts gelernt. Sie kritisierten im Jänner 2018 die Veröffentlichung der Recherchen.

Machtmissbrauch im System

Anstatt die Vertuschungsvorgänge, die sich damals zugetragen haben, zu untersuchen und offenzulegen, setzen sie die alte Maschinerie erneut in Gang. Der Skiverband ist bis heute nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen, wie sich im Fall des jüngst wegen sexueller Übergriffe verurteilten Skitrainers zeigt. Auch hier ist nicht die Tat der Skandal. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der die hoffnungsvolle Sportkarriere eines Jugendlichen ruiniert wurde.

Es geht (was) weiter

Wir sind im Jahr 2018 und ein knappes Jahr nach dem Machtmissbrauch im Sport ein öffentliches Thema wurde einen kleinen Schritt weiter aber noch längst nicht am Ziel. Es werden sich weiter Betroffene melden, Gerichte werden entscheiden und irgendwann wird es nicht mehr möglich sein, sich herrisch abzuputzen und die Zuständigkeit zu leugnen.

Es geht um die Zukunft

Einige Gespräche mit hochrangigen Sportfunktionären, die das schon erkannt haben, machen Mut. Die Alten Herren, die sich um die Zukunft der Nachfolge-Generationen keine Gedanken machen, werden von immer mehr Menschen nicht mehr ernst genommen. Vor allem dann, wenn sie sich hinter der Entrüstung über späte oder gar posthume vermeintliche Rufschädigung von Sportlegenden verstecken.

Nachlese – wie alles begann

Chronologie in ausgewählten Artikeln

„Es gab Übergriffe. Von Trainern, Betreuern, Kollegen“
Der Standard, 20. 11. 2017

Schwerpunkt Übergriffe im Sport
Der Standard

Der Akt Toni Sailer
Dossier 17.01.2018

„So, heut‘ kommst du dran!“
Süddeutsche Zeitung – 8. Februar 2018, Missbrauchsvorwürfe in Österreichs Skisport

„Toni Sailer war ein Nationalheld. Ich war 14“
Der Spiegel, 19. Oktober 2018