Liebe Frau Winkens

Liebe Frau Winkens

Liebe Frau Winkens,

zuallererst möchte ich Ihnen mein Mitgefühl ausdrücken, für die sexuelle Gewalt, die Ihnen als junger Frau angetan wurde. Es ist mutig, darüber zu reden, egal zu welchem Zeitpunkt.

Warum erst jetzt?

Möglicherweise wird Ihnen die Frage erspart bleiben, die mir und vielen anderen Betroffenen dauernd gestellt wird: „Warum erst jetzt?“ Sie haben ja ein Motiv geliefert, das für viele Menschen plausibel klingt. Ich habe darüber nachgedacht.

Zuerst mein Motiv

Ich habe ‚meine Geschichte‘ öffentlich erzählt, als ich für mich empfunden habe, dass es jetzt reicht. Dass im Sport und in anderen Systemen Machtverhältnisse aufrecht gehalten werden, die unter anderem sexuelle Gewalt ermöglichen.

‘You have to use your privilege to serve other people’
Tarana Burke

#MeToo

Von #MeToo und Tarana Burke wusste ich noch nichts, als ich den Beschluß fasste ein Tabuthema laut auszusprechen. Nachträglich habe ich dann mehr erfahren. Über das Motiv und die Initiatorin der MeeToo Bewegung. Mich bewegen ähnliche Gefühle.

Die Geschichte eines Mädchens

Alles begann lange vor dem Weinstein-Skandal – mit der Geschichte eines kleinen Mädchens.1996, als Burke als Jugendcamp-Leiterin arbeitete, hat sich ihr ein Mädchen anvertraut und vom Missbrauch durch den Freund ihrer Mutter erzählt.

„Ich sah ihr dabei zu, wie sie wie sich von mir entfernte, wie sie versuchte, ihr Geheimnis wieder einzufangen und in ihr Versteck zurückzulegen. Ich sah, wie sie ihre Maske wieder aufsetzte und wieder in die Welt hinausging, als sei sie ganz allein – und ich fand nicht einmal die Kraft um ihr zuzuflüstern: Me too.“
Tarana Burke

Scham und Angst

Inzwischen haben sich mir viele Menschen anvertraut. Frauen und Männer, die zum ersten Mal über schlimme Erfahrungen mit sexueller Gewalt reden konnten. Einige haben vierzig, fünfzig Jahre ganz alleine mit traumatischen Erinnerungen zugebracht; aus Scham und Angst vor gesellschaftliche Ächtung.

Es geht um die Zukunft

Andere haben ihre Erfahrungen, so wie ich, schon längst überwunden. Wut und Selbstzweifel haben dem inneren Frieden Platz gemacht. Die Opferrolle ist dem Gefühl einer liebevollen Partnerschaft gewichen und gegen die Rolle als Eltern und Großeltern getauscht.

Das Motiv, berühmte Namen preiszugeben und damit die heile Welt von Sport, Kunst, Kultur und Religionen in Frage zu stellen, hat bei uns allen nichts mit Rache zu tun.

Es geht uns allen gemeinsam um die Aufarbeitung der Vergangenheit in Systemen um dadurch einen Paradigmenwechsel für die Zukunft der Nachfolgegenerationen zu ermöglichen.

Liebe Frau Winkens

Über Ihr im News Interview geäußertes Motiv habe ich mich gewundert. Ich habe mich gefragt ob Sie den Sinn von MeToo nicht verstanden haben. Dass #MeToo kein Pranger ist. Dass es vergleichsweise wenige Kollateralschäden gibt, gegen die positiven Effekte für unzählige Betroffene. Dass daraus eine veränderte Wahrnehmung entsteht, die präventiv wirkt.

Schuldfragen klärt der Rechtsstaat

Ich finde es durchaus wichtig, dass man Männer nicht pauschal unter Verdacht stellt. Ich halte es für falsch, Beschuldigte vor der Klärung durch rechtsstaatliche Verfahren freizusprechen oder zu verurteilen.

Wenn man nicht direkt betroffen ist oder als Zeugin oder Zeuge eine direkte Wahrnehmung von Vorfällen hat und Partei ergreift, macht man nichts anderes als Menschen an den Pranger zu stellen – entweder mutmaßliche Opfer oder mutmaßliche Täter.

Die Schuldfrage im von Ihnen genommenen Anlaßfall für Ihr Outing, wird am Rechtsweg geklärt werden. Stellen wir versuchsweise eine ganz andere Frage, die alle etwas angeht: Wie kommt ein Aufnahmeprotokoll von einer Anzeige bei der Polizei in die Redaktion eines Boulevardblatts?

Machtmissbrauch im System

Machtmissbrauch im System

Franziska Fuchs ist das Pseudonym einer Frau, die in der Öffentlichkeit anonym bleiben will. Sie hat ‚ihre Geschichte‘ von der Vergewaltigung durch Toni Sailer dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel erzählt. Wie im Jänner schon, als ein Journalistenkollektiv neue Fakten zum Akt Sailer aus dem Jahr 1974 veröffentlichte, gehen auch diesmal die Emotionen hoch. Es wird gemutmaßt und verurteilt. Im Zusammenhang mit sexueller Gewalt im Sport steht aber eines Fest: Die Hauptschuld trägt der Machtmissbrauch im System

Franziska hat mich im Frühling 2018 kontaktiert. Sie möchte mit mir reden. Nicht am Telefon, ob wir uns treffen können? Wir trafen uns und was sie mir anvertraute, hat mich betroffen gemacht wie kein anderes Gespräch über sexuelle Gewalt zuvor.

Vergewaltigt mit vierzehn

Der Spiegel hat darüber berichtet, wie ein 14 jähriges Kind von Toni Sailer mit einer Autogrammkarte am 26. Jänner 1975 im Quartier der österreichischen Mannschaft ins Hotelzimmer gelockt wurde. Wie zunächst eine Vergewaltigung versucht wurde. Das Mädchen dann im Zimmer eingeperrt war um später von einem 40 jährigen Nationalhelden brutal missbraucht zu werden.

Glaubwürdige Schilderung

Ich habe keine Sekunde an Franziskas Schilderung gezweifelt. Die Zusammenhänge hätte allenfalls jemand aus dem näheren Umfeld des Skizirkus konstruieren können, nicht aber ein Mädchen, das als Skifan zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Warum erst jetzt?

Es war ein Gespräch unter heute reifen Frauen, über kindliche Ratlosigkeit, Schuldgefühle, Scham und wie Franziska dadurch schwer krank wurde. Sie hat sich noch als Jugendliche einem Therapeuten anvertraut. Er hat ihre tiefe seelische Verletzung als Jungmädchen-Phantasie abgetan. Danach hat sie geschwiegen.

Ich erzählte meine Geschichte und sagte: ich wurde vergewaltigt. Habe auch den Namen dazugesagt. Der Arzt hörte zu, schluckte und meinte anschließend, ob ich mir sicher bin, denn er glaube, das ist nur ein Jungmädchentraum.
Originalzitat FF

Einige Wochen vor unserem Treffen habe ich für den Kurier einen Gastkommentar geschrieben. Die Wogen gingen in Österreich hoch, weil ein Journalistenkollektiv von Der Standard, Dossier und Ö1 den ‚Akt Sailer‘ erneut ausgegraben hat, nachdem der Fall 1974 im Stern bereits Thema war und erfolgreich verdrängt wurde.

Wir reisten damals auch in den „Ostblock“. Dort hörte ich von günstigen Quellen für Kaviar, Krimsekt & „Nutten“. In den Hotels der Nomenklatura herrschte Ausnahmezustand, auch für die Grundwerte des Marxismus. In diesem Ambiente war vieles möglich. Sogar das Unvorstellbare, das 1974 über Toni Sailer im „Stern“ erstmals in den Fokus der Öffentlichkeit geriet. Der junge Journalist Bernd Dörler hatte akribisch recherchiert und mit viel Mut über weitreichende Zusammenhänge berichtet.

Schon damals stand weniger die mögliche Straftat von Sailer im Mittelpunkt. Es war das diplomatische Zusammenspiel, das politische Kalkül zweier Regierungen. Das hätte man ernst nehmen müssen und nicht zensieren. Als Mitglied des Skiteams, wusste ich nicht was ich glauben soll. Es kursierten viele Geschichten und Gerüchte. Die Version vom Skiverband wurde zur Norm, der Journalist zum Schwein erklärt. Somit war das Thema tabu.

„Der wahre Skandal wird sichtbar“
Nicola Werdenigg, Gastkommentar Kurier

Das Opfer des Systemversagens hat ein Gesicht

Nachdem Franziska mir ‚ihre Geschichte‘ erzählt hatte, bekam ein Opfer des Systemversagens ein Gesicht, das die Person Toni Sailer und mutmaßlichen Taten noch mehr in den Hintergrund gedrängt hat. Sailer wäre am 17. November 83 Jahre alt geworden, 2009 ist er gestorben. Das System, das zumindest ein mutmaßliches zusätzliches Verbrechen möglich gemacht hat, erfreut sich eines blühenden Lebens.

Aus der Vergangenheit nichts gelernt

Männerbünde bestehend aus Sportfunktionären und Politikern verhinderten die Aufklärung einer schweren Anschuldigung. Sie setzten sich über Gesetze und Rechte jeder Art hinweg. Namhafte aktive Politiker haben aus der Vergangenheit nichts gelernt. Sie kritisierten im Jänner 2018 die Veröffentlichung der Recherchen.

Machtmissbrauch im System

Anstatt die Vertuschungsvorgänge, die sich damals zugetragen haben, zu untersuchen und offenzulegen, setzen sie die alte Maschinerie erneut in Gang. Der Skiverband ist bis heute nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen, wie sich im Fall des jüngst wegen sexueller Übergriffe verurteilten Skitrainers zeigt. Auch hier ist nicht die Tat der Skandal. Es ist die Selbstverständlichkeit, mit der die hoffnungsvolle Sportkarriere eines Jugendlichen ruiniert wurde.

Es geht (was) weiter

Wir sind im Jahr 2018 und ein knappes Jahr nach dem Machtmissbrauch im Sport ein öffentliches Thema wurde einen kleinen Schritt weiter aber noch längst nicht am Ziel. Es werden sich weiter Betroffene melden, Gerichte werden entscheiden und irgendwann wird es nicht mehr möglich sein, sich herrisch abzuputzen und die Zuständigkeit zu leugnen.

Es geht um die Zukunft

Einige Gespräche mit hochrangigen Sportfunktionären, die das schon erkannt haben, machen Mut. Die Alten Herren, die sich um die Zukunft der Nachfolge-Generationen keine Gedanken machen, werden von immer mehr Menschen nicht mehr ernst genommen. Vor allem dann, wenn sie sich hinter der Entrüstung über späte oder gar posthume vermeintliche Rufschädigung von Sportlegenden verstecken.

Nachlese – wie alles begann

Chronologie in ausgewählten Artikeln

„Es gab Übergriffe. Von Trainern, Betreuern, Kollegen“
Der Standard, 20. 11. 2017

Schwerpunkt Übergriffe im Sport
Der Standard

Der Akt Toni Sailer
Dossier 17.01.2018

„So, heut‘ kommst du dran!“
Süddeutsche Zeitung – 8. Februar 2018, Missbrauchsvorwürfe in Österreichs Skisport

„Toni Sailer war ein Nationalheld. Ich war 14“
Der Spiegel, 19. Oktober 2018

Warum erst jetzt?

Warum erst jetzt? Die häufigste Frage an Betroffene sexualisierter Gewalt, die sich entschlossen haben endlich zu reden.

Im November 2017 bin ich knapp 40 Jahre nach dem Ende meiner Skikarriere mit meinen persönlichen Erfahrungen sexualisierter Gewalt im Sport an die Öffentlichkeit gegangen. Seither hat sich viel getan. Betroffene aus vielen Sport- und anderen Lebensbereichen haben den Mut gefunden zu reden. Bei vielen liegen die schlimmen Erlebnisse lange zurück, ebenso wie bei mir.  Die häufigtste Frage, die allen gestellt wird: Warum erst jetzt?

Es war kein Fremder

Wenn mich auf der Prater-Hauptallee jemand Wildfremder überfallen würde, dann wäre sofort klar: Das zeige ich an.

Aber wenn es im unmittelbaren sozialen Umfeld passiert, fällt einem die Orientierung so schwer: Was tue ich jetzt? Das war ja nicht der unbekannte Fremde, der dich irgendwo von der Straße in ein Hauseck reinzieht, das war das unmittelbare soziale Umfeld, das Umfeld, in dem sich auch alle meine Freunde befanden.

Anzeige undenkbar

Das ist so, als ob es in der Familie passiert – dann ist das Ganze, noch einmal schwieriger. Mein privates Milieu, mein familiäres Milieu und das sportliche, das war im Grunde genommen alles ein einziges Gefäß. Ich war etwa 18 Jahre alt, da habe ich es gegenüber einer Freundin verbalisiert, sie war ganz betroffen. Sie kam auch aus diesem Umfeld – doch das dann auch anzuzeigen, ist uns damals beiden nicht in den Sinn gekommen. Das war aus dem Milieu und der Zeit heraus absolut keine Denkkategorie.

In den ersten Jahren waren es die Scham und die Angst, stigmatisiert zu werden und die Sportkarriere aufgeben zu müssen. In den 1970er-Jahren haben vergewaltigte Frauen vor Gericht selten recht bekommen.

Vorläufig verdrängt

Als ich meinen Mann kennenlernte, wollte und musste ihm davon sofort erzählen. Ich stellte mir ja auch die Frage: Bin ich noch liebenswert? Kann mich nach so etwas überhaupt noch jemand lieben? Und er hat so reagiert, dass uns danach 35 Jahre wunderbarer Partnerschaft möglich waren. Und dann waren bald drei kleine Kinder da, die Erlebnisse wurden in den Hintergrund gedrängt. In der jungen Familiensituation und wirtschaftlichen Aufbauphase war es undenkbar, meine Geschichte öffentlich zu machen.

Endlich abgeschlossen

In den Siebzigern, Achtzigern konnte man am Land auch nicht zu einem Psychologen gehen, ohne für verrückt gehalten zu werden. Erst etwa zwanzig Jahre später, als ich schon in Wien lebte, bin ich eigentlich wegen etwas ganz anderem zur Therapie gegangen. Da ist das dann ziemlich schnell hochgekommen. Dann lag mit einem Mal der Ursprung des Problems da, und dieser Zustand war ungeheuer erleichternd. Erst ließ ich die Wut heraus, dann war sie weg und ich mit meinem Schicksal versöhnt.

Wenn sich jemand an mich wendet und um Rat fragt, sage ich:

„Schließ es bitte zuerst für dich selber ab. Schau, dass die Wut weg ist, bevor du weitere Schritte unternimmst, geh ein, zwei Schritte zurück -such nach persönlichen Zusammenhängen und nach strukturellen Zusammenhängen. Kläre es erst mit dir selbst, bevor du dich öffentlich äußerst.“

Warum erst jetzt?

Auszüge aus meinem Buch – SKI MACHT SPIELE

Er war ein Volleyballtrainer. Es war im Mai 2017, als die Presse von einem 60-Jährigen berichtete, der wegen des Verdachts auf schweren sexuellen Missbrauch von Unmündigen, Missbrauch eines Autoritätsverhältnisses und Herstellung von Kinderpornografie festgenommen worden war. 57 mutmaßliche Opfer hatten sich gemeldet. Die Medien setzten sich nur spärlich mit dem Fall auseinander – bis das Interesse schließlich ganz versiegte.

Mein erstes Enkelkind sollte im Sommer zur Welt kommen, und ich fand, es sei höchste Zeit, etwas gegen Machtmissbrauch im Sport zu unternehmen. Von der #MeToo-Bewegung, die bereits 2006 von der Frauenrechtsaktivistin Tarana Burke in den USA gegründet worden war, wusste ich damals noch nichts. Meine Idee, anhand meiner eigenen Erlebnisse im Umfeld des Skisports ein erhöhtes Bewusstsein für eine Problematik, die so viele betrifft, zu schaffen, schien mir einen Versuch wert.

Jetzt bin ich zur Triggerin geworden – für individuelle Ängste auf allen Seiten der Betroffenheit.

Die einen fühlen ihre Geheimnisse als Opfer, Zeugen oder als Täter enttarnt. Für viele andere bin ich so was wie eine große Schwester geworden, sie vertrauen mir „ihr Geheimnis“ an – Opfer, Zeugen, und nein, bisher waren keine Täter dabei. Viele Männer – und das macht echt Mut – wollen sich neu orientieren und stellen Fragen, wie ich als Frau männliches Verhalten empfinde.

Alles war richtig – auch der Zeitpunkt

Ich habe das Richtige getan. Daran hatte ich zu keinem Zeitpunkt Zweifel. Ich habe den Schritt vom Opfer zu einer nicht leidenden Betroffenen längst vollzogen. Es wurden keine alten Wunden aufgerissen, ich habe emotional mit den Vorfällen abgeschlossen. Ich arbeite daran alles mir Mögliche gegen Machtmissbrauch im Sport zu unternehmen. Diese geradezu selbstverständlichen Übergriffe konnten und können nur in Strukturen passieren, die in sich geschlossen sind.

#WeTogether

Der Sport und gerade der Sport der Nachkriegszeit hat diese Auswüchse begünstigt. Mit seinen Idolen, mit seinen Inszenierungen, mit der Verflechtung zwischen Politik und Sport. Insbesondere der Skisport, der zur nationalen Angelegenheit erhoben wurde, könnte gerade jetzt einen Weg einschlagen, der gesellschaftspolitisch richtungsweisend ist.

#WeTogether – Wir alle gemeinsam gegen Missbrauch von Macht!

Um einen authentischen Frage/Antwort-Stil zu erzielen, wurden Textpassagen aus Interviews entnommen

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Meine ganze Geschichte – NEWS 17. Dezember 2017 mit David Pesendorfer

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[av_font_icon icon=’ue835′ font=’entypo-fontello‘ style=“ caption=“ link=’manually,Der Mensch ist Material‘ linktarget=’_blank‘ size=’25px‘ position=’left‘ color=“ admin_preview_bg=“][/av_font_icon]Der Mensch ist Material 22.3.2018 profil mit Edith Meinhard